[hoerBUCHtipps]
autoren                 |               sprecher                 |                   verlage                    |                 kritiker               |                         impressum

  

                                  

  Poesie des Alltags: Ich mache mir Sorgen, Mama

Die Einschulung der Tochter, der sehr spezielle sportliche Ehrgeiz des Vaters oder die Probleme einer Bekannten mit der Zweigeschlechtlichkeit ihres Hauskaninchens: Es sind anekdotenhafte Episoden aus dem alltäglichen Leben in Berlin, die der russischstämmige Autor Wladimir Kaminer in seinem Band "Ich mache mir Sorgen, Mama" erzählt. Die Kurzgeschichten sind im Februar 2005 im random house Verlag als Hörbuch erschienen.
Mit charismatischem russischen Akzent liest der Lesereisen-erprobte Autor seine Texte selbst. Die Verständlichkeit beeinträchtigt das keinesfalls. Im Gegenteil: Der leicht fremdartige Klang verstärkt den Effekt eines spielerisch eingesetzten Blicks des kulturell Fremden auf die Szenen des deutschen Alltagstreibens.
Kaminer beschreibt aus der Perspektive des - nicht in die Gepflogenheiten eingeweihten - Beobachters beispielsweise die jährlichen Laternenumzüge zu Sankt Martin. Zur religiös-mythologischen Hintergründe der festlichen Veranstaltung täuscht der Erzähler Unwissen vor. Aufgrund des Beobachteten erschließt sich ihm lediglich, dass besagter Martin wohl ein Prediger gewesen sein muss, der sich schon im Mittelalter offensiv für das Tragen von Laternen und das anschließende Verspeisen von Würsten eingesetzt hat und dessen Botschaft offensichtlich von der Menschheit mit Begeisterung aufgenommen wurde. Erst die Tochter klärt ihn schließlich über die wahre Geschichte des Heiligen auf: Nachdem dieser Mann einem Bettler die Hälfte seines Mantels geschenkt hatte, erschien ihm im Traum Gott, der nach eigener Auskunft "fast alles bekommt, was man den Armen gibt". Die Traumerscheinung schickt den ehemaligen Soldaten schließlich zum Religionsunterricht, damit er dort mehr erfahre. Martin schneidet dabei so gut ab, dass er schließlich selber "Chef vom Religionsunterricht" wird.
Überhaupt räumt Kaminer der kindlichen Wahrnehmung - vertreten vor allem durch Sohn und Tochter - in seinen Geschichten viel Platz ein. Komik entsteht so unter anderem dort, wo die kindliche Naivität mit ihrer Beharrlichkeit die erprobten Erklärungsmuster von Erwachsenen in Frage stellt.
Ein Beispiel dafür ist, wie der Erzähler seiner väterlichen Pflicht nachkommen und dem kleinen Sohn anhand der Krokodile im Zoo eine erste Lektion in Sachen sexueller Aufklärung erteilen will. Das Vorhaben scheitert auf ganzer Linie. Das liegt zum einen an der mangelnden Kooperationsbereitschaft der Krokodile, die sich partout nicht der heterosexuellen Paarnorm fügen wollen und sich in trauter Dreieinigkeit einrichten. Es liegt aber auch an der kindlichen Unnachgiebigkeit des kleinen Sebastian, der sich weigert, um der Erkenntnis der - von der Natur eingerichteten - Fortpflanzungsmechanismen willen ein Krokodilpärchen anzuerkennen, wo offensichtlich ein Dreiecksverhältnis besteht.
Solche bewusst naiven Perspektiven werden in anderen Geschichten durch einen flapsig kommentierenden Stil abgelöst. Kaminer nimmt beispielsweise in dieser Art unter dem Titel "Der Wintersport" die sportlichen Eigenarten unterschiedlicher Nationen aufs Korn.
Auch "lustigen deutsche Volkstraditionen" wie der Einschulung steht der Autor mit respektloser Ungezwungenheit gegenüber. Im Mittelpunkt der Erzählung über den Schulanfang seiner Tochter stehen demgemäß vor allem die Unannehmlichkeiten, die den Eltern der Erstklässler das erzwungenermaßen frühe Aufstehen bereitet, nachdem sie sich zunächst das festliche Programm anlässlich der Einschulung ihres Nachwuchses "reingezogen" haben.
Kaminers Lesung ist durchweg amüsant und kurzweilig. Schade ist allerdings, dass für die Hörbuchfassung eine Auswahl getroffen wurde, in der einige der gelungendsten Geschichten des Bandes fehlen.

Vladimir Kaminer, "Ich mache mir Sorgen, Mama"
[an error occurred while processing this directive]

 

 

[Amazon]

 

home              |                suchen                  |            newsletter               |              gästebuch             |          kontakt


© 2005 by fjh-Journalistenbüro, D-35037 Marburg