"Als hätte Sigmund Freud einen BRAVO-Fotoroman nach Motiven der Gebrüder Grimm verfasst", schrieb "Die Welt". Das ist ein durchaus treffendes Resümee in Anbetracht eines an Krudheit kaum zu überbietenden Projekts: Helge Schneider schrieb und inszenierte 2003 für das Schauspielhaus Bochum ein Musical in Anlehnung an das Mädchen-Pferdemagazin "Wendy". Voil
- "Mendy, das Wusical!"
Das Stück wurde ein grandioser Bühnenerfolg. Bei "tacheles!" erschien nun die 81-minütige Hörspielfassung. Sie ist ein "Solo für Helge", spricht er hier doch alle Figuren selber. Nein, mehr als das: Schneider spricht und singt nicht nur alle Menschen und Tiere, er zeichnet auch für sämtliche Geräusche verantwortlich, fungiert als Erzähler, teilt den Hörern Regieanweisungen mit inklusive Umbauphase! - Und er begleitet am Klavier. So entstand eine wahrhaft hybride - aber authentische - One-Man-Show.
Weil dem Rezensenten sehr an der Wahrung dieser Authentizität gelegen ist, soll an dieser Stelle der Inhalt vom Schöpfer selbst wiedergegeben werden: "das Kind seiner Eltern" - Wendy - "reitet gerne und hat ein Lieblingspferd, Mocca. doch die Mutter ist streng (Lady Mamma). Vater ist an den Rollstuhl gefesselt und fährt Porsche. Sie haben auch einen Knecht, der schmutzige Stiefel hat. Er wird plötzlich mit dem Beil aus Versehen getroffen. Nachher wollen sie die Müllsäcke mit ihm vor der Polizei verheimlichen. Dann will der Vater das Pferd seiner Tochter an den Schlachtermeister verkaufen. Das gibt Geld für neue Reifen! das Kind läßt sich aber eintauschen. Als der Schlachthof brennt, hauen alle ab, nur der Vater, der seine Frau vorher überfahren hat, hat Pech. Happy-End."
Man erkennt: Hinter "Mendy, das Wusical!" steckt eine fabelhaft-fabulöse Reflexion über Liebe, Lieblosigkeit und Perversion im agrarisch-konservativ geprägten Familienmilieu (hier: Reiterhof). Dem Helge-erprobten Rezipienten fällt zudem das in Schneiders Werk stets wiederkehrende Motiv der autoritären, dominanten, sexuell unbefriedigten Mutter auf. Der Vater hingegen ist eine Witzfigur, vom Leben enttäuscht, in hohlen Materialismus fliehend.
Die Sympathieträger des "Wusicals" sind jeweils innerlich zerrissene, ungeborgene Figuren. Die 15-jährige Wendy kämpft um Selbstverwirklichung und elterliche Akzeptanz. Liebe empfindet sie ausgerechnet für ein Pferd. Mocca ist von derartigen - seiner faunaischen Existenz entgegengebrachten - Gefühlen überwältigt. Seinen Status als Lieblingspferd bezahlt das Tier jedoch mit der sozialen Ächtung auf der Koppel; will sagen: Unter den anderen Pferden - namentlich Chefpferd, Thorsten, Boris und Dr. Rainer Klimke - ist der aus niederer Herkunft stammende Mocca "nicht geduldet so richtig".
Den Höhepunkt dieses Konflikts bildet die Szene, in der Mocca auf Geheiß von Chefpferd Wendy abwirft. Doch der Beziehung tut dies keinen Abbruch, im Gegenteil: Als Mocca das Schlachthaus droht, bietet Wendy ihr Leben für das seine an - die Eltern sind einverstanden.
Weil aber Liebe immer siegt, finden - im genauso nerven- wie herzzerreißenden - Finale Gaul und Göre doch noch zueinander.
Befreit von allem sozialen Widerborst erkennen die Liebenden einander neu. Auf wundersame Weise transzendiert ihre Liebe schließlich das Anthropomorphe. Finis.
Für all diejenigen, die bei Schneider nicht nach Tiefgang suchen wollen, sei klargestellt: "Mendy, das Wusical!" ist randvoll mit schneidereskem Nonsens vom Allerfeinsten. Es wird genuschelt, gesungen, gepoppt, gesplattert und geblödelt - Onkel Helge hat für jeden etwas dabei. Und es macht ihm hörbar Spaß.
Schneider kann hier, was ihm beim Vorlesen von Büchern wie "Eiersalat" verwehrt blieb, hemmungslos an seine frühen Hörspiele und dadaistischen Sketche anknüpfen, den Clown raushängen lassen und noch dazu zauberhaft naive Musical-Melodien, mal bluesig, mal jazzig, mal opernhaft, aus dem Ärmel schütteln.
Zu den musicalischen Höhepunkten zählen Wendys Aufräum-Song, Lady Mammas geschlechtsaktbegleitender Bass, ein "atonales Andante mit Unterarm und Ellbogen" und ganz besonders Wendys und Moccas finales Liebeslied. "Mendy, das Wusical!" ist ganz einfach Helge at his best! |